Fast auf den Tag genau ein Jahr nach meiner letzten Türkei-Reise starte ich am 24. August 1991 zu meiner nächsten. Begleitet werde ich diesmal von Susanna, einer Freundin aus dem Studentenwohnheim. Beide haben wir unser Diplom in der Tasche und wollen vor dem Einstieg in das Berufsleben noch mal ordentlich Asphalt unter die Räder nehmen.
Vor ein paar Monaten hatte ich mir eine BMW R 100 GS Paris Dakar gekauft. Im Grunde ein tolles Motorrad, so richtig glücklich wurde ich mit ihr aber nie. Die Geschichte dazu findet Ihr in meiner “Ehemaligengalerie”. Susi fuhr ein Honda CX 500, kurz eine Güllepumpe.
Am Tag des Aufbruchs ergoss sich ein Wolkenbruch über München. Als ich in Rosenheim bei Susanna ankomme, hat es wenigstens aufgehört zu regnen und wir starteten bestens gelaunt unsere Fahrt zu den Muselmanen. Wie letztes Jahr führte die Route nach Ancona, von dort mit dem Schiff nach Igoumenitsa, quer durch Griechenland in die Türkei und weiter an der Küste nach Süden. Zurück quer durch das Land über Istanbul wieder zur Fähre. Um Geld zu sparen, mieden wir die Autostrada. Dank der großzügigen Spurweite italienischer Landstraßen kommt man als Biker aber auch auf diesen zügig voran. Spätestens ab Rimini, wenn die Landstraße das erste Mal das Meer sieht, herrscht blanke Anarchie auf der Piste. Die Strecke führt schnurgeradeaus am Meer entlang. Jeder, der langsamer, als 120 fährt, ist ein Verkehrshindernis. Geschlossene Ortschaft - was ist das?
Unsere erste Nacht verbrachten wir auf einem Campingplatz in Ferrara in Sichtweite der gewaltigen Stadtmauer. Es war heiß, dar Abend lau und leichtsinniger Weise hatten wir kein Zelt aufgeschlagen. Direkt neben die Motorräder legten wir uns zum Schlafen. Das Ergebnis: Am nächsten Tag war alles nass, unsere Schlafsäcke von Tau überzogen. Zu warten, bis das alles in der Sonne Italiens getrocknet war, hatten wir keine Zeit. Also stopften wir die clammen Teile in die Beutel, gönnten uns eine Espresso zum Frühstück und nahmen die restlichen Kilometer nach Ancona in Angriff.
Nachmittags um 3 sind wir dort, haben Zeit für eine Pizza und ein paar Einkäufe. Vor dem Schiff, der Fedra, treffen wir Christian mit seiner XT600 aus Erlangen, Geologiestudent, der auf einer griechischen Insel seine Diplomarbeit schreibt. Wir verstehen uns auf Anhieb und bleiben auch auf dem Schiff zusammen.
Deckspassage ist einfach etwas anderes als Kabine. Abgesehen davon, dass man kein Bett hat, trifft man so jedoch eine Vielzahl gleichgesinnter. Es gehörte einfach zusammen: Motorrad fahren und auf Deck schlafen. Zwei volle Tage dauert die Passage nach Griechenland. Verordnetes Ausspannen, Zeit zu lesen, sich zu unterhalten oder einfach nur dazusitzen und auf das Meer zu blicken. Igoumenitsa erreichen wir am Abend. Bis wir vom Schiff sind, ist es dunkel. Nachdem die Preisdifferenz beim Sprit zwischen Italien und Griechenland locker 50 Pfennig ausmacht, stehen hier natürlich erst mal alle Schlange an den Zapfsäulen.
Wir beschließen derweil, essen zu gehen. Finden eine gemütliche Kneipe direkt am Hafen und bestellen drauflos. Small Fish, Kalamaris, Lammkotelettes diverse Beilagen und Salate. Lange sitzen wir in der Kneipe, lassen uns ein Heinecken nach dem anderen schmecken und so vergeht die Zeit. Es ist Mitternacht, bis auch wir zur Tankstelle rollen, Sprit fassen und uns dann auf den Weg machen, hinüber nach Osten. Hinter Igoumenitsa kommt erst mal nichts, das wussten wir. Nach wenigen Kilometern sehen wir im Scheinwerferlicht einen kleinen Weg, folgen ihm und stellen an einer breiteren Stelle die Motorräder ab. Wir sind todmüde, rollen nur noch unsere Schlafsäcke aus und sind kurze Zeit später im Land der Träume.
Früh am nächsten Tag starten wir hinauf auf den Katara-Pass. Die Straße ist eine einzige Baustelle, immer wieder sind lange Passagen mit tiefem Schotter zu bewältigen. Hinter Thessaloniki trennen sich die Wege von Christan und uns. Er muss weiter in Richtung Süden, wir nach Osten. Die Autobahn von heute gab es seinerzeit noch nicht, der gesamte Fernverkehr wälzte sich durch diese Metropole. Ich erinnere mich, wie wir direkt vor dem Hauptbahnhof an einem Zeitungskiosk im Stau standen. Christian erzählte freudestrahlend, wie happy er über den jüngst eingebauten Ölkühler sei. Und auch ich was froh, dass die 1000er GS einen solchen serienmäßig hatte. Ein Jahr vorher stand ich hier mit meiner alten R 80 G/S und wartete nur darauf, dass in der Hitze der Ölfilm riss.
Die Einreise in die Türkei gestaltete sich angenehm kurz. Vor dem Zollgebäude in Ipsala standen nur wenige Fahrzeuge. Wir holten uns die Stempel von Polizei und Zoll, und fuhren kurz darauf in Richtung Kesan, wo wir in südlicher Richtung abbogen, hinunter zu den Dardanellen. Wir hatten uns auf dem Hinweg für die dortige Fähre entschieden und wollten die Sehenswürdigkeiten Istanbuls auf dem Rückweg besuchen. Die Nacht verbrachten wir auf einem Campingplatz in der Nähe von Canakkale. Mehmet, der in Deutschland studiert hier aber im Prinzip als Schlepper arbeitet, hat uns zu dem Platz gelotst. Hinten auf meiner BMW sitzend grüßt er breit grinsend, die schwarze Sonnenbrille im Gesicht, seine Bekannten und Freunde. Nachdem man uns auf dem Platz nur ein bisschen übers Ohr haut und zum Abschied auch noch eine Flasche Wein schenkt, sehen wir es nicht so eng.
Die NUR-Pension in Selcuk, nahe Ephesus, kenne ich vom letzten Jahr und hier steigen wir auch diesmal wieder ab. Für den Besuch der antiken Städten nehmen wir uns einige Stunden Zeit, schlendern über die befestigte Straße mit ihren Säulenreichen untersuchen einige der alten Wohnhäuser und setzen uns auf die Ränge des Theaters, um die Atmosphäre auf uns wirken zu lassen. Gerd, ein Bekannter von Susi, und seine Freundin verbringt einen zweiwöchigen Pauschalurlaub an der Türkischen Riviera. Ihn besuchen wir in Marmaris, im 5-Sterne Hotel Grand Azur. Ich persönlich finde es furchtbar, Susanna nutzt die Gelegenheit, in einem sauberen Appartement mit allem Komfort ausgiebig zu duschen. Auf meine Frage, was denn die beiden von der Türkei schon gesehen haben , erhalte ich als Antwort: „Oh, wir waren auf der anderen Straßenseite, Obst kaufen!“
Für uns Individualtouristen hat diese Ecke der Türkei nichts mehr zu bieten. Bereits ’91 reihte sich dort ein Hotelbunker an den anderen. Doch auch wir möchten wenigstens ein paar Tage am Strand verbringen und fahren weiter die Küste entlang in Richtung Osten. Mehrere Abstecher auf Naturstraßen hinunter zum Meer verlaufen Ergebnislos, bis wir kurz vor Fethiye einem handbemalten Schild „Camping“ folgen.
So dürfte die gesamte Küste Türkei vor 20 Jahren ausgesehen haben. Ein absolut unberührter Sandstrand erstreckt sich Kilometer lang vor uns. Dort, wo die kleine Straße auf den Strand trifft steht ein uralter VW Käfer unter einem mit Palmwedeln bedeckten Gestänge. Daneben ein paar Tische vor einer unverputzten kleinen Kneipe. Auf unsere Frage, wo denn hier der Campingplatz sei, grinst uns der Besitzer breit an und deutet mit einer weit ausholenden Bewegung über den Strand „Hier, alles Camping!“
Drei Tage bleiben wir in diesem Paradies. Abgesehen von ein paar Restaurantbesuchern sind wir mit den Wirtsleuten alleine. Die beiden sind ein Kapitel für sich. Mit ihrem alten VW Käfer hätten sie gut auf das Konzert in Woodstock gepasst. Beide sind etwa Mitte 30, er mit einem langen Rauschebart, sie mit ihrem kurzen, vollkommen untürkischen, Minirock. Selten habe ich so liebe und herzliche Menschen getroffen, wie die beiden.
An unserem letzte Abend essen wir zusammen. Sie grillen zwei große Fische, dazu gibt es Kartoffeln, etwas Gemüse und Brot. Als ich mit dem Wirt kurz allein bin, kann er sich nicht zurückhalten und erklärt mir, wie ich es anstellen muss, um Susanna endlich herumzukriegen. Scheinbar ist ihm aufgefallen, dass zwischen uns beiden nichts läuft. Das ist von uns auch so gewollt, wir machen eine Motorradreise als Freunde, nicht als Pärchen. Dennoch, der Wirt streckt sein beiden flachen Hände aus, so dass sie übereinander stehen. Dann sagt er: „Thomas, musst Du machen, wie Toastbrot, einer oben, einer unten!“ Ich bin sprachlos und kann mir das Lachen nur mühsam verkneifen.
Nach dem Essen machen Susi und ich noch einen Spaziergang am Strand entlang. Wir setzen uns und zugegebener Weise ist es ein Abend, wie aus dem Bilderbuch. Über uns die Sterne, um uns kein Mensch, es ist warm, man hört das Rauschen des Meeres. Romantischer könnte es nicht sein. Dann kommt die Krönung und aus den Lautsprechern in der Kneipe ertönt James Last.
Am nächsten Tag ziehen wir weiter, der Abschied ist herzlich. Hinter Antalya, in Manavgat übernachten wir das letzte Mal am Meer, dann geht es hinauf nach Norden. Quer durch das Landesinnere, vorbei an Afyon nach Istanbul. Diesmal klappt es extrem gut mit der Orientierung. Wir folgen wieder dem Schild „Aksaray“ und übernachten im Hotel Dogan. Die Lage des Hotels gegenüber des Universitätsgeländes und in der Nähe praktisch aller Sehenswürdigkeiten ist ideal. Scheinbar eilen mir grundsätzlich Gerüstbauer auf meinen Reisen voraus. Diesmal ist es die Hagia Sophia, die im Inneren zur Hälfte eingerüstet ist. Dennoch ist der Bau gigantisch und hinterlässt einen tiefen Eindruck. Gegenüber liegt die „blaue“ Moschee, bekannt wegen ihrer gewaltigen Kuppel, die sich über riesige Säulen und deren „Elefantenfüßen“ auf dem Boden abstützt. Auf der gegenüber liegenden Seite der Halbinsel liegt der Topkapi Palast, ehemaliger Sitz des Sultans und Herrschaftszentrum des osmanischen Reiches. Diesen besichtigen wir und lauschen gespannt den Erzählungen des Führers, der jeder Gruppe zugeteilt wird.
Wenn es eine Steigerung zum Verkehrschaos in Istanbul gibt, dann ist es Istanbul im Regen. Und genau das „erfahren“ wir am kommenden Tag. Zu all dem Verkehr, dem Ruß, der Hitze und den Staus kommen jetzt, abgesehen von der Nässe, schlechte Sicht und noch rutschigere Straßen. Es ist die Hölle.
Die Strecke vom alten Byzanz hinüber nach Griechenland ist ohne große Abwechslungen. Einmal noch müssen wir übernachten, bevor wir die Fähre zurück nach Italien besteigen. Wieder stehen wir früh morgens Stunden auf dem Schiff in der Schlange, um unsere Pässe vom Italienischen Zoll abstempeln zu lassen. Draußen gießt es aus Eimern. Noch im Frachtraum der Fähre ziehen wir uns unsere Regenkombis an, dann geht es hinaus ins Unwetter. Bis Mittag schüttet es, was das Zeug hält, dann endlich reißt es auf. Zwar ist es nicht mehr allzu weit nach Hause, wir beschließen aber dennoch kurz hinter dem Gardasee nochmals zu übernachten. Die Fahrerei im Regen hat uns ziemlich zugesetzt und so richtig vorangekommen sind wir auch nicht.
Kommenden Tags überfahre ich beinahe den österreichischen Zöllner. Bisher wurden wir an der Grenze stets durchgewunken und auch diesmal machte der Uniformträger keinerlei Anstalten, uns intensiver kontrollieren zu wollen. Plötzlich springt mir der Knabe direkt vor das Motorrad. Nur gut, dass ich extrem langsam gefahren bin.
Um vier Uhr am Nachmittag sind wir wieder in Rosenheim. Susi und ich verabschieden uns herzlich, dann mache ich mich auf den Weg, die letzten paar Kilometer nach München.